Warum berichten unsere Qualitätsmedien nicht?
Proteste in Russland
In einer russischen Teilrepublik finden seit Wochen Massenproteste statt, Aktivisten hatten Zeltlager errichtet und sich Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Warum haben die deutschen „Qualitätsmedien“ darüber nicht berichtet, die doch sonst jeden kleinen Protest in Russland zur Revolution gegen Putin verklären?
Obwohl die deutschen Medien permanent den Eindruck erwecken, in Russland herrsche strenge Zensur, gibt es sehr dort wohl oppositionelle Medien. So gibt es zum Beispiel TV-Rain, von denen man im Westen manchmal hört und auf den sich westliche Medien gerne berufen, wenn es um Skandale in Russland geht. In diesem Fall berichten sie aber nicht.
Vor zehn Tagen hat TV-Rain aus der russischen Teilrepublik Baschkortostan berichtet. Die Teilrepublik liegt ganz im Südosten des europäischen Teils von Russland und dort haben tausende seit Wochen gegen die Abholzung eines Waldes demonstriert, der den Menschen dort eine große, historische Bedeutung hat und der unter speziellem Schutz steht. Es wurden dort Zeltlager errichtet und es gab Rangeleien mit der Polizei, die die Firma geschützt hat. Auch ohne Russischkenntnisse sind diese Bilder in dem Beitrag gut zu erkennen.
Worum geht es in dem Streit?
Die Firma, um die es geht, ist die „Bashkir Soda Company“. Die Firma ist ein Produzent von Soda, sie baut es ab und verarbeitet es weiter. Die Polizei hat das Zeltlager der Demonstranten aufgelöst und 70 Aktivisten unter anderem wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen. Das wäre normalerweise ein gefundenes Fressen für die deutschen Medien, die so gerne über den brutalen Polizeistaat Russland berichten. Aber in Deutschland hörte man darüber kein Wort.
Der Gouverneur der Region hat sich dann eingeschaltet und ist zu den Demonstranten gefahren, die sich trotz Polizeieinsatz nicht vollständig aus dem Wald haben vertreiben lassen. Er hat ihnen zugesagt, dass die Rodung eingestellt wird, bis eine für alle Seiten akzeptable Lösung gefunden wird, woraufhin die Demonstranten lautstark die Einstellung der Rodung ohne wenn und aber gefordert haben.
Es ging aber nicht nur um den Wald, das war nur die sichtbare Spitze des Eisberges. Es ging um ein ehemaliges Staatsunternehmen, die Bashkir Soda Company, die vor einigen Jahren mehrheitlich privatisiert wurde und nun regelrecht ausgesaugt wird. Staatsbetriebe in Russland nehmen immer aus soziale oder gesellschaftliche Pflichten wahr, finanzieren soziale Einrichtungen oder Stadtfeste und so weiter. Wenn so etwas plötzlich aufhört, bemerken die Menschen das natürlich.
Aber Russland ist groß und in vielen Regionen denkt man sich immer noch, dass Moskau weit weg ist und dass man ein wenig „mauscheln“ kann.
Die Sache machte einige Wellen in Russland und wahrscheinlich ärgert sich die Firmenleitung inzwischen darüber, dass sie die Rodung durchsetzen wollte und damit für so viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, denn inzwischen ist sogar die Staatsanwaltschaft aktiv.
Putin schaltet die russische Regierung ein
Inzwischen hat sich der Kreml eingeschaltet und das Thema wurde gestern auf einer Videokonferenz der Regierung behandelt, die teilweise im Fernsehen übertragen und deren Protokoll – wie immer bei solchen Sitzungen – auch auf der Seite des Kreml veröffentlicht wurde. Dort sagte Putin zu dem Skandal:
Und bevor wir zur wichtigsten Frage der heutigen Tagesordnung kommen, möchte ich noch etwas anderes sagen, worauf ich die Aufmerksamkeit der Regierung, des Premierministers und einiger anderer Kollegen lenken möchte. Ich werde Ihnen sagen, worum es geht.
Ich weise auf die Situation im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Republik Baschkortostan hin, es geht um die Bashkir Soda Company. Die Dokumente, die mir zugegangen sind, sagen folgendes. Natürlich ist es den Menschen wichtig, dass ihre Arbeitsplätze erhalten werden, das ist an sich selbstverständlich. Aber nicht nur das. Geistliche und kulturelle Werte bewegen die Menschen ebenfalls, und auch Fragen im Zusammenhang mit der Umwelt, dem Umweltschutz, der sozialen Entwicklung und der Infrastruktur. Worum geht es?
Das Unternehmen, das ich gerade erwähnt habe, die Bashkir Soda Company, gehört mehrheitlich Privatpersonen. Das vom Unternehmen verdiente Geld wird praktisch nicht in die Entwicklung investiert, das Geld bleibt nicht in der Region. Von den Gesamteinnahmen der Firma der Vergangenheit, im Jahr 2019 waren das 45 Milliarden Rubel, wurden nur 2,5 Milliarden Rubel für Investitionen verwendet. Wo ist das Geld?
Es ist bekannt, wo es ist – auf Offshore-Konten. Schauen Sie, 12,3 Milliarden Rubel wurden im Jahr 2018 als Dividenden ausgezahlt. Was meinen Sie, wie viel Prozent des Nettogewinns ist das? 106 Prozent. Es ist mehr, als der Nettogewinn. Im Jahr 2019 waren es 107 Prozent des Nettogewinns. Auch hier geht das Geld dorthin, wo die Aktionäre leben, auf zyprische Konten, nach Frankreich, in die Schweiz.
Natürlich kann man leben, wo man will, wir sind ein freies Land. Aber wenn Sie in Russland arbeiten, hier Ihr Geld verdienen, dann müssen Sie auch an die Menschen denken, die in Ihren Unternehmen arbeiten, Sie müssen über zukünftige Arbeitsplätze nachdenken, über den sozialen Bereich, über die Infrastruktur. Wir sollten uns diese Prozesse insgesamt einmal ansehen.
Andrey Ramovich hat mir heute über unsere Arbeit mit Offshore-Zonen berichtet, das ist mir bekannt, aber wir müssen insgesamt und systematisch auf dieses Thema zurückkommen. Unkontrolliertes Abziehen von Geld ohne jegliche Verpflichtungen im Zusammenhang mit Investitionen ist eine traurige Geschichte.
Aber was ist das Interessanteste? Anfang 2013 wurde der Staatsanteil an dem Unternehmen durch eine Fusion mit einem privaten Unternehmen gesenkt. Der Staat hatte 62 Prozent und plötzlich waren es 38, und als Ergebnis änderten sich die Prioritäten des Unternehmens dramatisch. Es sieht nicht so aus, als sei das Ziel der heutigen Aktionäre die langfristige Entwicklung dieses Unternehmens. Es sieht nach etwas anderem aus: So viel Geld wie möglich um jeden Preis aus dem Unternehmen zu ziehen.
Ich bitte die Regierung der Russischen Föderation zusammen mit der Führung der Republik, die Situation im Detail zu untersuchen und Lösungen vorzuschlagen. Ich denke, dass die Menschen, die darauf aufmerksam gemacht haben und ihr Misstrauen gegenüber dem, was vor Ort geschieht, zum Ausdruck gebracht haben, weitgehend Recht haben, und es gibt keinen Anlass, daraus Konflikte zu machen, sondern man muss einen Dialog mit den Menschen führen und nach Lösungen suchen.
Ich wiederhole es noch einmal: Die Arbeitsplätze müssen natürlich erhalten bleiben, aber darauf muss man rechtzeitig und regelmäßig achten, indem die notwendigen Investitionen in die Produktion getätigt werden, neue Produktionsstätten geschaffen werden, die Ausbildung der Menschen sicher gestellt wird und so weiter. Diese Werkzeuge sind allgemein bekannt, man muss sie nur anwenden, daran muss man arbeiten.
Ich bitte auch die Staatsanwaltschaft, die Rechtmäßigkeit des Vorgangs zu überprüfen, der zum Verlust der Kontrolle des Staates über diese Vermögenswerte geführt hat.
Soweit Putins Aussagen dazu.
Weshalb sich die deutschen Medien nicht für diese Proteste interessieren
Es geht also um die negativen Folgen einer Privatisierung. Es geht darum, dass ein Staatsbetrieb, der früher eine Rolle im sozialen Leben einer Region gespielt hat, der früher auch an der Entwicklung der Infrastruktur mitgewirkt hat, nun von den neuen Eigentümern ausgesaugt wird, die mehr Geld aus dem Unternehmen ziehen, als es Gewinne erwirtschaftet. Die Substanz der Firma wird geplündert.
Das erlebt man oft bei Privatisierungen: Was die westlichen „Qualitätsmedien“ der Öffentlichkeit als „Effizienzsteigerung“, als „Kostenreduzierung“ oder als „Steigerung der Wettbewerbsfähig“ verkaufen, ist oft nichts anderes, als das Ausschlachten eines Betriebes, was nach kurzer Zeit zum Abbau von Arbeitsplätzen und zum Verfall der Infrastruktur führt.
Man sieht diese Effekte besonders deutlich, wenn wir uns Eisenbahngesellschaften oder Wasserversorger anschauen. Nach der Privatisierung werden die Schienen weniger gewartet, die Züge werden unpünktlicher oder das Trinkwasser teurer, während die Wasserqualität sinkt. Das ist ein Phänomen, von dem mir keine einzige Ausnahme bekannt ist.
Aber da es Teil des westlichen Systems ist, das die Medien unterstützen, indem sie Privatisierungen pauschal als etwas Gutes darzustellen, berichten die deutschen Medien nicht über die russischen Proteste gegen die Folgen der Privatisierung eines Unternehmens. Protest in Russland ist für deutsche Medien nur dann interessant, wenn er gegen die Regierung geht. Wenn er gegen die Folgen einer Privatisierung geht, interessiert er die deutschen Medien nicht und der deutsche Leser braucht davon nichts zu erfahren.
Heute hat der Gouverneur der Region Baschkortostan mitgeteilt, dass die von ihm vor einigen Tagen zu der Frage eingerichtete Arbeitsgruppe bereits Hinweise auf Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierung gefunden und der Staatsanwaltschaft übergeben hat. Die Staatsanwaltschaft hat gegen alle Beteiligten an dem Prozess Ermittlungen eingeleitet, um ihre Rolle dabei zu überprüfen.
Und jetzt ist es nicht schwer zu erraten, wie es weitergeht. Sollte die Staatsanwaltschaft zu dem Ergebnis kommen, dass es bei der Privatisierung nicht mit rechten Dingen zugegangen ist und gegen den Deal vorgehen, ihn vielleicht Rückgängig machen oder Schadenersatz fordern, Beamte wegen Korruption vor Gericht stellen und so weiter, wird darüber im Westen wahrscheinlich auch nicht berichtet.
Es sei denn, einige der Beteiligten haben gute Verbindungen im Westen, dann dürften wir eine Medienkampagne darüber erleben, wie der russische Staat gegen ehrliche Investoren vorgeht.
Quelle: PublicDomain/anti-spiegel.ru am 29.08.2020